Zwei Wochen Santiago de Compostela
– ein Resümee
Ich sitze in meiner Wohnung in der Rua Nova und trinke selbstgekochten Kaffee mit Haselnussmilch. Durchs geöffnete Fenster dringen die Geräusche der belebten Straße: Das auf- und abschwellende Brummeln spanischer Gespräche, durchbrochen von hellem Lachen. Klirrendes Geschirr. Die Rufe der Möwen. Alltag in Santiago de Compostela.
Das wichtigste Gepäckstück in meinem Koffer ist ein Paar dicke Wollsocken. Obwohl der linke schon ein großes Loch hat, bin ich froh, dass ich sie habe! Auch wenn die Sonne scheint, speichert das dicke Gemäuer meiner Altbauwohnung die klamme Kälte der reichlich vorhandenen Regentage. Ein wärmendes Plasteunterhemd (meine Schwester heißt Polyester!) wäre auch nett gewesen. Aber das passte nicht in den Koffer – denn ich musste ja 2 Reisehandtücher (die ich nicht brauche), 4 Schals (von denen ich zur Zeit genau einen benutze), 2 Fleecejacken (von denen die wärmere nur im Schrank hängt) und meine dicken Wanderschuhe (man weiß ja nie) mitnehmen.
Santiago hat zwei Gesichter:
An den Regentagen hängt eine bleischwere Wolkendecke über der Stadt. Die Straßen sind leer. Es ist still. Erst wenn man aus dem Haus tritt, um in der Rua do Villar in einem schönen Brokatsessel ein Frühstück einzunehmen, stellt man fest: Die Menschen sind gar nicht weg! Sie drängen sich unter den Arkaden, die die wichtigsten Laufwege der Altstadt flankieren, und gehen hier vom Regen unbehelligt ihren Geschäften nach – stehen mit Espressotassen unter den Rundbögen herum, unterhalten sich und stechen einander die Regenschirmspitzen in die Fußknöchel. An Regentagen trocknet die Wäsche nicht. Die Fenster sind geschlossen, die Geräusche gedämmt, die Stadt grau. Die Pilger sind von Kopf bis Fuß in Regenpelle gehüllt und schütteln sich vor dem Betreten von Bars und Cafés wie nasse Hunde.
So bleischwer und melancholisch Santiago im Regen ist, so lebendig ist es bei Sonnenschein. Innerhalb der kurzen Zeitspanne, die es dauert, einen Regenschirm zu schließen, erwacht die Stadt nach einem Schauer wieder zum Leben: Die Hippies in der Rua Nova ziehen die Plastikplanen von ihren Ständen. Hunde werden von ihren Regenmänteln befreit. Die Bettler nehmen wieder ihre Plätze vor den Supermärkten ein. Pilger packen an Brunnen und Denkmälern ihre Jause aus. Und vor allem: Die Geräusche! Bei gutem Wetter ist die Stadt voller Musik: Ein Querflötenduett. Traditionelle galicische Lieder mit Dudelsack und Gesang. Ein einzelner alter Mann mit Geige. Manu Chao aus einer offenen Ladentür. Eine Jazzsängerin, die den Torbogen zwischen Praza Obradoiro und Rua da Acibecheria mit ihrer Stimme erfüllt.
Es kann übrigens auch passieren, dass man von der Rua do Villar zum Vorplatz der Kathedrale kommt und dort ein ganzes Sinfonieorchester vorfindet!
Die ersten Tage hier in Santiago waren angefüllt von Staunen. Der erste Blick aus meinem Fenster auf die Dächer der Rua Nova. Das erste Mal wieder vor der Kathedrale stehen. Der erste Blick auf den Botafumeiro. Der erste Café con Leche. Der erste Einkauf im Supermarkt. Der erste Biss in einen der Lieblingskekse, die es nur in Spanien gibt. Der erste puddingdicke, süße, spanische Kakao. Die ersten Pilger. Der erste Zumo Natural – frisch gepresster O-Saft, den man hier in jeder Bar bekommt. Die ersten Pimientos de Padron. Wunderbare erste Male! Die sich übrigens auf wichtige Weise von einzigen Malen unterscheiden: Durch das Verprechen „Du kannst mich immer wieder haben, Baby!“ – jedenfalls in den nächsten 4 Wochen. Einzige Male sind Erlebnisse – erste Male sind potentielle Gewohnheiten. Davon haben sich in den letzten Wochen hier schon so einige entwickelt:
Das Frühstück im Café Casino.
Egal bei welchem Wetter, gefrühstückt wird auswärts! Mittlerweile hat das Café Casino ernsthafte Konkurrenz von Lusco&Fusco bekommen – einem Café nahe der Alameda, das von einer Amerikanerin aus Chicago geführt wird. Hier sind zwar die Sessel nicht so bequem, aber dafür bekommt man hausgemachte Scones und Sojalatte zum Frühstück – sorry, Café Casino..
Der Morgenspaziergang.
Nach dem Frühstück wieder nach Hause? Niemals! Also entweder noch durch den Park geschnurpst, oder mal kurz zur Porta do Camiño ankommende Pilger gucken gehen, oder gleich ins nächste Café – zB ins Café La Flor mit dem schnellsten WLAN zum Arbeiten.
Die heiße Schokolade zum Nachmittag.
Den späten Mittag verbringe ich oft zu Hause in der Rua Nova. Wichtigster Bestandteil einer gelungenen Siesta: Eine Schale typisch spanische heiße Schokolade mit Reismilch. Auch in Spanien gibt es mittlerweile reichlich Alternativen für Kuhmilchverschmäher – hier im kleinen örtlichen Supermercado gleich ein ganzes Regal voll.
Der Abendspaziergang.
Ich kann den Freuden des draußen Rumspringens nicht lange widerstehen. Spätestens gegen 19/20 Uhr muss ich noch mal raus und durch die Gassen streifen. Es gibt immer einen Grund: Fotos müssen gemacht werden, es müssen noch Nudeln oder Tomate frito oder Pistazien gekauft oder es muss ein weit entfernter Supermarkt erforscht werden, es muss Kaffee getrunken oder es müssen Pimientos de Padron gegessen werden – oder es lockt eine heilige Messe in einer Kirche, die ich noch nicht kenne.
Die Gewohnheit namens „Churros am Nachmittag“ habe ich mir gerade wieder abgewöhnt:
Da die Bäckerin immer 2 Stück mehr rausrückt, als man haben will, habe ich vor ein paar Tagen zu viel davon gegessen und nehme jetzt wieder Abstand von Fettgebackenem.
10 Dinge, die ich bisher in Santiago de Compostela gelernt habe:
- Reise niemals ohne Wollsocken.
- Wenn Du etwas vermisst, guck im Sofa nach.
- Lieblingskekse schmecken in Deinen Träumen besser als in Echt.
- Arbeiten im Café ist schön, macht aber viel Arbeit.
- Aquarius geht immer.
- Regen hört immer wieder auf.
- Sonne hört immer wieder auf.
- Muscheln sind für Vegetarier ungeeignet.
- Wer einmal den Süßigkeitenladen betritt, hat schon verloren.
- Morgens um 5 ist die Straßenreinigung am lautesten.