Things we lost in the sofa

Ich sitze im schönsten Wiener Caféhaus von ganz Santiago de Compostela:
Im Café Casino gibt es Stuck an der Decke, eine hölzerne Wandvertäfelung, gemütliche Brokatsessel und Frühstück für 3,50.
Von der Rua Nova aus muss man sich nur durch das enge Callejón de Entrerruas schlängeln, rechts unter den Arkaden durch und an der Buchhandlung vorbei laufen, und dann ist man schon da. Dauert keine 2 Minuten! Vor 10 Uhr sind die besten Plätze noch frei und man kann sich am Fenster im Sessel räkeln, einen Café con leche trinken und die vorbeiziehenden Pilger beobachten.
Ich lese in meinem Handy einen Artikel über die Psychologie des Loslassens, als der Kellner kommt, um mich abzukassieren. Ich zahle, lächle, packe alles wieder weg und – suche mein Handy. Verdammt.
Ich hatte es doch auf die Sessellehne gelegt – 1000prozentig! Weg. Nicht unterm Sessel, nicht unterm Kissen, nicht auf dem Tisch, nicht auf der Fensterbank. Ich kippe meinen Rucksack auf dem Sessel aus. Bitte zwei britische Pilgerinnen, mich mal anzurufen. Lege das Ohr aufs Sofakissen und lausche. Nichts. Mir wird warm und ich denke die bösesten Gedanken. Ich hatte es. Ganz sicher. Dann kam der Kellner, und es war futsch. Aber er wird doch nicht…das kann doch nicht im Ernst…? Nein, es muss irgendwo sein. Das alles ist sicher nur ein schrecklicher Irrtum. Vielleicht hatte er Angst, dass es gestohlen wird, und hat es deshalb fürsorglicherweise an sich genommen. Genau, so wird es sein.
Ich renne raus, wo der Kellner gerade Tische und Stühle aufstellt, und erkläre ihm das Problem. Er nickt gelassen und begleitet mich nach drinnen: Keine Sorge, das ist nicht weg. Wo hast Du gesessen? Hier, auf dem Sofa? Sein Arm verschwindet bis zum Ellbogen in den Untiefen des ungefähr 200 Jahre alten Polstermöbels, und: Taucht mit meinem Telefon in der Hand wieder auf. „Was hast Du denn gedacht, wo es ist?“ fragt er leicht schnippisch und händigt mir das Gerät aus. Ich wische mir den Schweiß von der Stirn.
Hier kann ich mich nie wieder blicken lassen, denke ich.
Einen Tag später. Ich sitze auf der Praza de Cervantes vor einer Bar, schlürfe frisch gepressten Orangensaft und unterhalte mich mit einem belgischen Pilger, der mir von seinen bereits 11 (!!!) Jakobswegen erzählt. Dieses Jahr ist er von Barcelona aus nach Santiago gelaufen. Er sieht braun gebrannt und glücklich aus unter seinem grauen Bart. Während des Gesprächs krame ich schon mal in meiner Tasche nach dem…ähm, ja…wo isser eigentlich? Mein Schlüssel? Der Hausschlüssel für meine Wohnung in der Rua Nova? Kein Schlüssel. Nicht hier, nicht da. Verdammt.
Ich entschuldige mich für den Abbruch des Gesprächs und leere meinen Rucksack auf den Tisch. Den Inhalt der Gürteltasche kippe ich gleich hinterher. NICHTS! Mir wird MEHR als warm – ich weiß, dass meine Vermieterin, die Profesora, nur diesen einen Schlüssel hat. Und sie ist wirklich sehr sanftmütig, aber das wird selbst ihr nicht gefallen. Ich verabschiede mich hektisch, bezahle meinen Zumo de Naranjas und eile die Straße runter Richtung Praza de Obradoiro. Es gibt nur einen Ort, wo der Schlüssel sein kann. Nämlich da, wo ich heute morgen frühstücken war. Dreimal darfst Du raten, wo das ist!
Außer Atem erreiche ich das Café Casino. An der Theke steht ein Kellner, den ich zum Glück nicht kenne. Ich erkläre mein Problem auf Spanisch & sehe schon mit halbem Auge den gewaltigen Altbauschlüsselbund aus der Rua Nova zwischen ein paar Schnapsflaschen liegen. Mit einem Grinsen reicht der Mann ihn mir rüber. Ich bedanke mich überschwänglich, wische mir den Schweiß von der Stirn und stolpere erleichtert hinaus.
Jetzt kann ich mir hier wirklich nicht mehr blicken lassen, denke ich.
