Du siehst mich von hinten, Berlin!

– warum eine Auszeit vom Abenteuer manchmal genau das Richtige ist.

Autobahnabfahrt Nummer 17

Wie praktisch, dass ich erst beim letzten Artikel Synomyme für „abhauen“ gesammelt habe – denn genau das habe ich letztes Wochenende getan: Ich habe die Fliege gemacht. Mich verpisst, verzogen, verkrümelt, verdrückt. Das Handtuch geworfen und der Hauptstadt den Rücken gekehrt.
Berlin, Du siehst mich von hinten. Jedenfalls bis Sonntag Abend. 

Erst ist es nur ein kaum merkliches Kneifen. Wie bei einem kratzigen Schildchen in einem neuen Schlüpper. Dann beginnt es, ein bisschen wehzutun. Wie leichtes Bauchweh. Wie Kopfweh. Wie die schlimmsten Zahnschmerzen der Welt: HEIMWEH!!!! Mit großen Krokodilstränen und allem Pipapo.

Fürs Wochenende sind in Berlin (und auch sonst überall, außer vielleicht, warte mal: In Sibirien. Am Nordpol. Auf dem Himalaya.) mit bis zu 38 Grad die bisher heißesten Temperaturen des Jahres angesagt. Und ich hasse Hitze.

Hitze = Kopfweh. Immer. Das ist ein Naturgesetz, das mich zwingt, ab Mai mit einem bescheuerten Hut und einem nassen Lappen im Nacken rumzulaufen.

Aber macht ja nichts. Denn man kann sich ja verstecken. In einer klimatisierten großen Buchhandlung. Im Kino. Bei Starbucks. All das habe ich mir tapfer fürs Wochenende vorgenommen, hier in der großen Stadt. Denn leider ist mein Airbnb-Zimmer äußerst ungemütlich. (Notiz an mich selbst: Unbedingt beim nächsten Mal fragen, ob das Zimmer wirklich so aussieht wie abgebildet, oder ob es zufällig in der Zwischenzeit komplett umgebaut wurde. Menno.)

Also, ich will tapfer sein. Und hierbleiben. Aber wenn mich an diesem Freitagmorgen jemand fragen würde, was das Schönste ist, was ich mir fürs Wochenende vorstellen kann…nein, anders: Als ich mich am Freitag morgen frage, was das schönste ist, was ich mir fürs Wochenende vorstellen kann, da fällt mir nur eins ein:

AB NACH HAUSE.

Die kühle Altbauwohnung im Erdgeschoss. Mein eigenes Bett. Meine eigene kalte Dusche. Der Badesee um die Ecke – ohne viel Publikum, dafür voller Entengrütze und mit zwei gemütlich darauf herumschwimmenden Schwänen. Freunde auf dem Straßenfest treffen. Mich mal wieder irgendwo vertraut fühlen.

Bei der Vorstellung – dass mein Zuhause nur 2 Stunden Autofahrt entfernt ist und ich tatsächlich hinfahren KÖNNTE, mischt sich Erleichterung mit Panik: Darf man denn das? Einfach so eine Auszeit vom Abenteuer nehmen? Ist das nicht wie Aufgeben?

Ein paar Stunden und einige Telefonate später bin ich auf der Autobahn. Mit schlampig gepackter Tasche. Ohne Hausschlüssel und EC Karte (wie sich noch herausstellen wird). Bei 36 Grad, mit einem nassen Lappen im Nacken. Im Stau am AVUS. Aber glücklich.

Und während ich freudig die Playlist mit den Lieblingssongs meiner Jugend in den Achtzigern durchnudle, während „Happiness is a warm gun“ von den Beatles abgelöst wird von Enyas „Orinoco Flow“, dicht gefolgt von Inner City und „Good life“ – denke ich über Mut nach. Und über Freiheit.

So Ihr Hasen, und jetzt kommt der pädagogische Teil. Wer ihn überspringen möchte, kann ja derweil den Soundtrack meiner Autofahrt anhören:

Ich bin zufrieden mit meiner Entscheidung. Obwohl sie spontan und aus dem Bauch heraus kam. Obwohl ich nicht „durchgehalten“ habe, was ich mir vorgenommen hatte. Obwohl es auf den ersten Blick „vernünftiger“ gewesen wäre, hier zu bleiben und das „durchzuziehen.“

Immerhin wollte ich doch 3 Wochen in Berlin bleiben. Und die Freiheit in der großen Stadt genießen. Aber was ist denn Freiheit eigentlich? Irgendwo zu sein, wo man sich zwischen 20 Yogakursen, veganen Cafés und Programmkinos entscheiden kann? Das große Ding durchziehen? Die großen Träume leben? Oder bedeutet Freiheit, sich frei entscheiden zu können – im Falle eines Falles auch mal für das etwas kleinere Ding, für das Vertraute, für die Konfortzone, für das Nicht-Abenteuer?

„Das Leben beginnt außerhalb Deiner Komfortzone“ lese ich immer wieder – und stimme teilweise zu. Wer sich nix traut, verpasst was. Es ist wichtig, offen zu sein für Neues und ein Stückchen Abenteuer ins Leben zu lassen. Ohne Frage. Aber wenn es außerhalb der Komfortzone weh tut, wenn es so zugig und ungemütlich ist, dass es Dir den ganzen Spaß versaut – dann darfst Du auch wieder zwei Schritte zurück treten. Denn das Gebiet außerhalb Deiner Komfortzone ist riesig. Und Du musst ja nicht gleich als ersten Schritt bis nach Sibirien reisen. Vielleicht ist für Dich der passende Schritt aus der Komfortzone ja erst mal ein Ausflug ins Nachbardorf oder in die nächstgrößere Stadt. Metaphorisch gesprochen natürlich.

Und damit bin ich beim Thema Mut.
Muss ich mich meinen Ängsten, doofen Gefühlen und meinem – uärks! – Heimweh immer stellen, indem ich das Gefühl möglichst lange aushalte? Oder kann es mutiger sein, erlernten Durchhalteparolen wie „Du musst das durchziehen“, „Du hast Dir das vorgenommen, jetzt mach es auch“ ein einfaches „Nö, muss ich nicht.“ entgegenzusetzen – und dann einfach das zu machen, was mir gut tut? Meine Meinung dazu kennst Du wahrscheinlich längst. Was denkst Du dazu?

Mein Mut wurde am Wochenende jedenfalls reich belohnt, und ich habe mich mehr als einmal über meine Entscheidung gefreut – am meisten beim Anblick der einfach nur liebenswerten Damenrunde auf dem Westbesuch, die sich mit Wassereimer zum Füße kühlen, feuchten Stoffwindeln, Wasserzerstäubern und kalter Gurkensuppe gegen die Sommertemperaturen gerüstet hatten.

Zuhause ist da, wo Du einfach angelatscht kommen kannst und die Leute so tun, als wärst Du nie weggewesen. Wunderbar.

Derart aufgetankt, konnte ich dann am Sonntag auch getrost wieder ins dicke B. verschwinden – begleitet von Gewitterwolken, und ergiebigen, herrlich kühlenden Regenfällen. So ist es schön. Danke, Leben. Für Gewitter, für Freunde und für das Talent, zu wissen, wann es genug ist mit der Tapferkeit und wann man gut zu sich sein darf. Nämlich immer 🙂

Sei nett zu Dir,
– und zu mir, ich freu mich über Deinen Kommentar.

Die Textnomadin

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